Frohes Neues Jahr: Ein Hoffnungsfunken an Silvester

Schon einmal vorab: Ich wünsche Euch ein frohes neues Jahr 2023! Weil ich es nicht geschafft habe, eine Weihnachtsgeschichte zu schreiben, habe ich in diesem Jahr eine Silvester-Geschichte geschrieben. Diese zwei Figuren geistern mir schon lange im Kopf herum und ich dachte mir: Gib ihnen einfach mal eine Bühne. Deshalb ist es keine Kurzgeschichte im klassischen Sinne, aber ein Vorgeschmack, was eventuell kommen könnte. Seid gespannt! :)

Ein Hoffnungsfunken an Silvester

 

Ich hasse Schnee. Mit diesen fiesen kleinen Eisstücken konnte ich mich noch nie anfreunden. Sie durchweichen meine Lammfell-Schuhe, mit denen ich eine ungeräumte Seitengasse durchquere. Am Silvesterabend hat sich wohl keiner des Menschenvolks dazu berufen gefühlt, die Schneemassen zu kleinen Bergen auftürmen, an denen ihre Kinder auf lustigen Plastiktellern hinunter rutschen. Sie faszinieren mich. Die kleinen Bräuche und das Überlegenheitsdenken der Homo sapiens. Wenn sie nur wüssten, dass ihre Ansichten über das Universum löchrig sind. Mein Volk weiß fast alles  über die unendlichen Weiten, die ihre Teleskope und Satelliten nie erreichen werden. Wir sind keine Menschen. Wir sind Zodiacs. Aliens wie der humane Volksmund sagen würde.  Die „Besseren", wie sie unsere Leute nennen. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen. Wir beobachten die Menschen seit Hunderten von Jahren. Heimlich. Unerkannt. Im Verborgenen und doch sehr offensichtlich. Angepasst und unsichtbar.

Späher, so wie ich es bin, behalten die heutigen Silvesterfeiern im Blick. Ich könnte mir Spannenderes vorstellen. Eine Politikdiskussion mit anderen Geminis zum Beispiel. Aber die sind heute alle bei uns zuhause. Meine Mutter veranstaltet einen Staatsempfang mit wichtigen Vertretern der Airis. Andere Ansichten, als jene, die in der Öffentlichkeit erlaubt sind, werden hier keinem über die Lippen kommen. Es ist eine reine Arschkriecher- Veranstaltung. Da kann ich den Menschen auch beim sinnlosen Alkoholisieren zusehen.

Ich rücke meine Mütze tiefer ins Gesicht. Schneeflocken legen sich auf meinen Wollmantel und hinterlassen nasse Flecken. Auch der kalte Wind kriecht mir die Wirbelsäule hoch. Fröstelnd blicke ich in den Himmel. Ich hasse den Winter. 

Nach etwa zehn Minuten inneren Fluchens erreiche ich das Zielobjekt. Eine kleine Bar in einer verschlafenen Kleinstadt, deren Highlights die immer selben Straßenfeste sind. Der Besitzer, ein Mann namens Marten, ist eine wichtige Schlüsselfigur. Er weiß über alle Geschehnisse Bescheid, ist die Anlaufstelle für Tratsch und Sorgen und ist glücklicherweise eine ebenso große Plaudertasche. Das wird eine schnelle Routinebefragung für mich. Ehe er sich versieht, hat er mir schon alles verraten, was ich wissen möchte. Und bin weg, ehe er zwinkern kann. Vor der Bar-Eingangstür stehen zwei taumelnde Männer, die ihre Lungen verpesten. Ich schleiche an ihnen vorbei, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Ein leichtes Spiel für mich. Im Eingangsbereich angekommen stößt mir warme, stickige Luft entgegen. Wäre sie ohne den Alkohol-Beigeschmack, würde ich mich hier glatt wie zuhause fühlen. Ich nehme einen tiefen Zug und schäle mich aus dem nassen Mantel.

„Zolo Lune! Was macht Mamis-Muster-Tochter in so einem Drecksloch?“

Wer hätte gedacht, dass meine schlechte Laune einen noch größeren Tiefpunkt erreichen könnte? Unbeeindruckt werfe meine Jacke auf eine Ledersitzecke. 

„Zolo Zazoon“, seufze ich. Es gibt im ganzen Universum niemanden, den ich mehr hasse als dieses aufgeblasene Arschloch. 

„Zolo“ heißt bei uns so viel wie „Gute Reise“. Wir glauben daran, dass jede Begegnung uns näher zu uns selbst bringt. Selbstoptimierung ist unser Lebenssinn. Ohne Fortschritt kann das Volk nicht wachsen. Zazoon wünsche ich das Gegenteil. Ich bin überzeugt davon, dass die Welt ohne ihn eine bessere wäre. Aber ich kann es mir nicht leisten, gegen die Höflichkeit Manieren zu verstoßen. Nicht in meiner Position als Tochter der Aris-Präsidentin.

„Schon vergessen? Ich bin Späher.“ 

„Sag es mir noch hundert Mal, dann denke ich bei unserem nächsten Treffen daran.“ Er zwinkert mir zu und schnippt aufgeregt mit dem Zeigefinger. „Wo ist dein Party-Hut? Willst du das Jahresende mit einem Zodiac-Weltstar wirklich mit diesen durchweichten Stofffetzen verbringen?“

Ehe er weiter sprechen kann, kreischen vier Frauen hinter ihm hysterisch um die Wette.

“Zoooon, bist du nach der Show noch frei?”, strömt es aus einer hübschen Blondine, die sich dabei lüstern die Lippen leckt.

Die drei brünetten Damen hinter ihr tauschen feindselige Blicke aus, ehe sie Zazoon mehrere Gegenangebote vorschlagen. Er tut das, was er immer tut. Zurücklehnen. Grinsen. Zwinkern. Und sich ab und an durch die pechschwarzen Haare fahren. So wie ich ihn kenne, nimmt er nach der Show alle drei mit nach Hause. So wie er es in den Konzerten seiner Heimat tut. Ein Rockstarleben wie es im Buche steht führt Zazoon nämlich in beiden Welten. Die Frauen tun mir leid. Sie können nicht einmal etwas dafür, dass sie dem Zodiac-Charme schutzlos ausgeliefert sind. In unserer Heimat werden solche Eigenschaften in die Wiege gelegt. Ein kontrollierter Lebensweg. Dieses Glück haben die Menschen nicht.

Ich nutze die Ablenkung und schleiche mich vor zur Theke. Die meisten Besucher versammeln sich vor einem gigantischen Countdown und heben ihre Gläser jedes Mal, wenn eine Minute weniger darauf angezeigt wird. Noch dreißig Minuten. Dann beginnt für sie ein neues Jahr, während in unserer Welt alles wie gehabt weitergeht. Mitleidig mustere ich ihre euphorischen Gesichter. Ich habe die Freude zu Abschieden nie verstanden. Mein Blick bleibt an einer Freundesgruppe hängen, die in einer dunklen Ecke sitzt. Ich sehe sie verschwommen wie durch ein Milchglas. Sie lachen, schlagen sich auf die Oberarme, halten sich die Bäuche oder liegen sich in den Armen. Eine junge Freundesgruppe, höchstens um die zwanzig. Wehmut breitet sich bei mir aus. Das war mir nie vergönnt. Ich schüttle meinen Kopf. Konzentration Lune. Denk an deine Mission. 

Auf dem Weg zu den Barhockern an der Theke schwingen meine weißen Locken zu einem freudigen Popsong. Ich winke einen jungen Kellner zu mir. 

“Ist Marten da?”, frage ich zuckersüß.

“N…N..Nein.” Er sucht nach den richtigen Worten, die seine Lüge stützen.
Marten ist da. Wie an jedem Tag. Nur will er vermutlich seine Ruhe.

“Sag ihm: Lune ist da. Ich warte.”

Ein knappes Nicken ist alles, was ich von ihm den restlichen Abend bekommen sollte. Der Kellner ließ sich nicht noch einmal bei mir blicken. 

Frustriert kralle ich meine Nägel in das Glas der Theke. Ich habe vergeblich gewartet. Früher hätte ich das Hintergebäude gestürmt und ihn ausgequetscht. Solche Einsätze darf ich nun nicht mehr machen. Zu gefährlich. Ich könnte verletzt werden. Blödes Schicksal.

Ein Gitarrenriff ertönt in der Bar. Mir ist gar nicht aufgefallen, dass die Musik wohl schon seit ein paar Minuten aus ist.

“Drei Minuten haben wir noch! Leute, seid ihr bereit, mit mir ins neue Jahr zu feiern?”

Auf der Bühne steht Zazoon, lässig wie immer. Eine Gitarre hängt ihm locker über der Schulter, in seiner Hand glänzt ein schwarzes Mikrofon. Er blickt direkt in die Gesichter der vielen Damen, die in der ersten Reihe stehen, wenn es sowas in dieser Bar überhaupt gibt. Ich frage mich sowieso, seit wann sich der große “Zoon”, wie er sich nennt, mit diesen kleinen Bühnen zufrieden gibt. Statt wie üblich jedem zu zu zwinkern, räuspert er sich und schlägt einen ernsteren Tonfall an. 

“Bei mir ist in diesem Jahr nicht viel Gutes passiert. Aber: Ihr seid heute bei mir! Damit fängt mein Jahr schon sehr gut an, wie ist das bei euch?”

Gekreische lässt meine Ohren bluten.

“Dieser Song ist für jemanden ganz Besonderen. Singen wir ihn gemeinsam, bis das Feuerwerk beginnt.”

Natürlich sieht er mir direkt in die Augen, als er diese eine Melodie spielt. Jeder der Airis kennt sie. Es ist unsere Hymne. Unser Stolz. Und er verspottet sie. Singt sie mit den Menschen, als wäre es ein albernes Seemannslied. Nicht einmal der Text ist stimmig. 

Trotzdem höre ich aufmerksam zu. Es bringt ein wenig Heimat zu mir. Plötzlich bereue ich meinen Ausflug. Wäre ich doch nur in unserem Haus geblieben. Es wäre genauso trostlos, aber wenigstens hätte ich für einen Moment das Gefühl bekommen, wichtig zu sein. Geliebt - auch wenn vieles davon nur höfliches Geplänkel ist.

Als der letzte Ton verklingt, ertönen draußen Schüsse, gefolgt von bunten Lichtern. Es ist Mitternacht. Neujahr. Zazoon wünscht allen ein frohes neues Jahr und verlässt die Bühne. Die Menschen in der Bar umarmen sich, rennen schnell in die Kälte und tragen diese Vorfreude im Gesicht, für die ich sie so bewundere. Wie das neue Jahr für sie wohl laufen wird? 

Ich stehe auf und gehe zu der Sitzecke, auf der noch immer mein durchweichter Mantel liegt. Angewidert streife ich ihn über und schüttle mich direkt. Zumindest ist der Rückweg jetzt kürzer. Eher ich zur Tür gehe, spüre ich eine Hand auf meiner Schulter.

“Frohes Neues Jahr Lune”, schnurrt mir Zazoon entgegen. 

“Ebenso”, zische ich und will nach draußen stürmen, aber er hält mich fest.

Ich drehe mich um und schlage ihm ins Gesicht. 

“Lass mich los!”

“Nein.”

Ich schlage mit den Beinen nach ihm, doch er weicht gezielt aus.
“Tu wenigstens einen Moment so, als wäre ich der nette Musiker, der dich mit seinen lustigen Liedern ins neue Jahr begleitet hat.”
“Das bist du aber nicht.”

Mit meiner ganzen Kraft trotze ich seinem Griff entgegen. Und er lächelt dabei charmant, wie er es immer tut.

“Ich lasse dich gehen, aber nur wenn du mir einen deiner Vorsätze verrätst.”

“Dein Ernst?”, stöhne ich. “Weltfrieden.”

Er kreischt auf, aber lässt nicht locker. “Du Lügnerin.”
“Dann sag mir, was du hören möchtest, scheiß Leo.”

“Etwas Ehrliches. Vorzugsweise auf mich bezogen.”
“Da kannst du lange warten.”

“Schade.” Sein Griff lockert sich. “Ich habe mal gehört, Airis bräuchten für die richtigen Antworten nur ein wenig Druck.”

Ich ergreife die Chance und drücke ihm die Fingernägel ins Fleisch. Statt aufzuschreien, lässt er mich los und nähert sich mir mit gekräuselten Lippen. „Ich merke: Du brauchst ein wenig Nachhilfe. Hier ein Rat von mir für das neue Jahr: Wieso wirfst du dein Talent für diesen Wachhund-Posten weg? Du könntest etwas Bedeutendes leisten, Lune. Denk mal darüber nach.”

Ich antworte ihm nicht. Stattdessen suche ich in seinen Augen nach der Wahrheit. Er lügt. Das tut er immer. Glaub ihm kein Wort. Kopfschüttelnd entferne ich mich vom Superstar Zoon und blicke nicht zurück. Mit meiner angestauten Wut trete ich die Tür auf und renne schnurstracks durch den Schnee. Er hat schon jetzt viele schwarze Flecken von Feuerwerkskörpern, die noch immer den Nachthimmel erhellen. Sie überdecken die strahlenden Sterne, in denen ich sonst immer nach Antworten suche. Warum kreuzt Zazoon ständig meine Wege? Wieso läuft mein Einsatz mal wieder nicht nach Plan? Und wieso erfinden die Menschen noch immer keine Schuhe, die wirklich wasserundurchlässig sind? Ein kleines Mädchen rennt mir vorfreudig zu. “Frohes Neues Jahr”, brabbelt sie mit kindlicher Stimme und streckt mir eine Wunderkerze entgegen. 

Ehe ich ablehnen kann, steckt sie schon in meiner Hand und vom Mädchen fehlt jede Spur. Kleine Funken treffen meinen Handrücken, als ich der glitzernden Kerze beim Abbrennen zusehe. War das ein Zeichen? Wird für mich nun endlich auch alles besser? Ich blicke in den Himmel und schließe die Augen.
Das wird es, sagt eine Stimme in meinem Inneren. Hoffentlich lügt sie nicht.


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